Industrie 4.0: Warum Jobs nicht knapper, sondern interessanter werden

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Industrie 4.0 - ein Schlagwort geprägt von neuen Möglichkeiten, aber auch Ängsten. Gastautor Arnold Braunstein geht diesen auf den Grund:

Jeder spricht über Industrie 4.0 und viele beschreiben sich als „Industry 4.0 ready“. Wenn man dann aber konkret nachfragt, kommt oft ein fragender Blick und wenig Inhalt. Sicher sind sich dennoch alle: eine große Veränderung ist im Gange! Oft hört man von Ängste wie “die Arbeit geht uns aus” oder „Industrie 4.0 wird xx% der Jobs vernichten“. Aber stimmt das so? Und warum sollte das so sein?

Was kann Industrie 4.0 heute?

Spricht man von Industrie 4.0 ist oft die Rede von Big Data oder vollautomatischen Fabriken (Smart Factories). Aber sind das die wirklichen Revolutionen bzw. Neuerungen, die uns Industrie 4.0 bringt? Aus meiner Sicht: Nein!

IT und Big Data gibt es bereits seit Jahrzehnten. Der große Unterschied ist nun, dass verschiedene Disziplinen wie etwa Robotik, Materialwissenschaften, Biotechnologie und riesige Rechnerleistungen mit einander verbunden werden um so völlig neue Möglichkeiten der Anwendung zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist 3D Printing, das es bereits seit Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts gibt. Dennoch kommt es erst seit wenigen Jahren wirklich massiv zum Einsatz, da erst die Kombination von neuen Möglichkeiten in der Steuerung, Materialwissenschaften, Rechnerleistung und CAD-Design, 3D Printing zu einer Industrie 4.0-Lösung macht. Dies wird weiterhin deutlich, wenn man bedenkt, dass von den neuen technischen Ansätzen, die 3D Printing erlaubt, heute nur etwa 10% ausprobiert wurden – ein Bruchteil.

Als weiteres aktuelles Beispiel sehe ich das selbst fahrende Auto, an dessen Realisation niemand zweifelt – wenn auch nicht sicher ist wann. Hier ist ebenfalls die Kombination aus mehreren Technologien die Lösung, die uns Menschen wieder Zeit zurückgeben wird, die wir derzeit in Autos verbringen um zu lenken, einzuparken oder zu navigieren. Diese Zeit werden wir in Zukunft wieder für uns haben. Eine großartige Entwicklung, oder?

Was kann Industrie 4.0 derzeit nicht?

Wir sind in einer Phase des Experimentierens und diese beinhaltet viele Skeptiker. Sie bringen Argumente vor, warum es nicht möglich sein soll, neue Ideen zu verwirklichen. Statt mit ihrem Ansatz sollten wir uns aber viel offener und intensiver mit den Möglichkeiten, die uns die rasanten technologischen Entwicklungen geben, beschäftigen. Wir sind nur dann in der Lage diese Entwicklungen zu Gunsten der Menschen zu nutzen, wenn wir uns ernsthaft damit auseinandersetzen und verstehen, was gut und was vielleicht weniger gut für uns ist. Gegenwärtig fehlen uns für viele dieser Innovationen noch die Strukturen sowie der Wille von Unternehmen eine ganzheitliche Lösung anzubieten.

Kommen wir noch einmal zum 3D Printing Beispiel zurück. Hier benötigt es in vielen Fällen verschiedenste Sichtweisen und Tools, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Die gesamte Komplexität dieser Technologie ist im Einzelnen bereits sehr weit vorangeschritten, aber es braucht Unternehmen und Menschen, die diese so zusammenführen, dass sie auf breiter Basis einsetzbar wird. Das beste Beispiel für Massenproduktion ist das Auto, das zu Beginn von wenigen ausgewählten Menschen gefahren werden durfte. Heute ist es technisch ein Kinderspiel und für die breite Masse zugänglich.

Die Zukunft in der Industrie 4.0

Ein grundlegender Ansatz, um hier zukunftsweisendes Denken zu fördern, ist die Diskussion über die Arbeit der Zukunft. Derzeit werden viele Artikel darüber geschrieben, dass Industrie 4.0 viele Arbeitsplätze vernichten wird (Die Presse, Der Standard, Welt, FAZ). Ja, es werden viele Tätigkeiten von Maschinen/Robotern erledigt werden, die heute noch von “billigen” und “unqualifizierten” Menschen erledigt werden. Aber welches Bild zeichnen wir hier, wissentlich, vom Menschen? Wollen wir einen unattraktiven, schlechten Job für ungebildete Menschen haben? Gerald Hüther schreibt in einem seiner Bücher (Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn) über den Fortschritt der Gehirnforschung. Festgestellt wurde, dass wir Menschen am glücklichsten sind, wenn unser Gehirn ideal genutzt wird. Die neuesten Ergebnisse der Gehirnforschung unterstützen also diesen Ansatz und zeigen, dass unser Gehirn eine Lösungsmaschine ist, die am besten funktioniert und sich dann am besten entwickelt, wenn sie dazu genutzt wird, (komplexe) Aufgaben zu lösen.

Auf die Arbeitswelt der Zukunft umgelegt, sollten wir froh sein, dass stupide und eintönige Arbeiten in Zukunft nicht mehr von Menschen geleistet werden müssen. Dafür sollten wir viel mehr Wert darauflegen, dass wir Menschen die Tätigkeiten ausführen, die wir als sinnstiftend wahrnehmen. Für diese findet sich ein enormer Bedarf in der Zukunft und es werden sich Arbeitsbereiche entwickeln, von denen wir heute noch gar nichts wissen.

Zurück zu unserem Beispiel: 3D Printing wird in den nächsten Jahren enorme Fortschritte machen und viele der klassischen Produktionen verändern. Tätigkeiten wie Drehen, Fräsen, Maschinen reinigen oder Teile einlegen, werden gar nicht mehr, oder nur noch im geringen Ausmaß, gebraucht. Dafür können enorm viele Arbeitsplätze geschaffen werden, um die notwendige Software zu entwickeln oder Materialien so zu gestalten, dass sie beste Ergebnisse hervorbringen. Viele, vor allem kreative Designer und Konstrukteure, haben völlig neue Möglichkeiten. Sie können innovative Formen auf allen Ebenen schaffen, die heute undenkbar sind, weil sie mit herkömmlichen Fertigungsmethoden schwer oder gar nicht hergestellt werden können. Da 3D Printing in sehr vielen Lebensbereichen zum Einsatz kommen wird, sind enorme Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden. Wir müssen es nur zulassen und die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.

Besonders die europäische Industrie wäre in meinen Augen geeignet federführend zu agieren und viele Disziplinen zur Zusammenarbeit zu vereinen. Im kleinen Rahmen ist der Denkansatz wie folgt: Eine Hilfskraft, die derzeit für das Bedienen einer Maschine Teile einlegt und das fertige Teil wieder aus der Maschine nimmt, könnte in Zukunft ihre Arbeitszeit nutzen, sich ausschließlich mit der Qualitätssicherung des Produktes zu befassen. Mittels Sensordaten und mit Hilfe von intelligenter Software kann sie Maschinen auswerten und so dazu beitragen, dass weniger Fehler entstehen, die Fertigung effizienter und somit Ressourcen eingespart werden. Gleichzeitig können Mitarbeiter meist eintönige Arbeiten einem Roboter überlassen und selbst einen wesentlich zweckvolleren Job kreieren. Das Unternehmen hat dazu den Nutzen, dass das Wissen der Mitarbeiter auf ein höheres Niveau gehoben wird, wodurch Zufriedenheit gewährleistet und die Angst von einem Roboter ersetzt zu werden, genommen wird.

Industrie 4.0 – Verbesserer der Lebensqualität?

Industrie 4.0 könnte speziell für Europa eine Verbesserung der Lebensqualität im Arbeitsbereich bedeuten. Die derzeitigen Probleme der Wirtschaft im Zusammenhang mit der Industrie 4.0 sind einerseits Arbeiter, die niederwertige Arbeiten ausführen und mit der Angst leben, dass sie von Maschinen ersetzt werden. Auf der anderen Seite sind die Arbeiter, die mit der Komplexität ihres Jobs überfordert und ebenfalls unzufrieden sind. Für beide Situationen hat die Industrie 4.0 aus meiner Sicht Antworten.

Für die einen Arbeiter können Maschinen den Job übernehmen, während sie sich darum kümmern, die Maschinen in Stand zu halten. Für die anderen können mit Hilfe von Big Data und vernetzter Rechnerleistungen Lösungen geschaffen werden, die Komplexität verringern. Beides sind sinnstiftende Tätigkeiten, die zu einem besseren Arbeitsumfeld und mehr Zufriedenheit beitragen; nach dem Motto: besser gemeinsam als einsam.

Der Weg in eine neue Zukunft

Der erste Schritt auf dem Weg zur „Arbeit der Zukunft“ ist Bildung. Menschen haben das Recht auf ein Leben vorbereitet zu werden, in dem sie ihr “Gehirn richtig bedienen können”, wie Gerald Hüther schreibt. Es ist entscheidend, dass wir Menschen heranbilden, die die Fähigkeit haben mit neuen Situationen flexibel umzugehen und vor allem neue Fähigkeiten zu entwickeln, um die immer komplexer werdende Welt zu meistern. Nur dann werden wir auch die Möglichkeit haben, die Technologien der Zukunft so einzusetzen, dass sie der gesamten Menschheit zugutekommen und nicht nur wenigen Auserwählten.

“Industrie 4.0”, wie das neue Zeitalter von der deutschen Regierung genannt wurde, ist besonders im DACH Raum ein Schlagwort, das mit sinnvollen Inhalten in Verbindung gebracht werden muss. Der Ansatz ist da, viele Grundlagen sind bereits erarbeitet. Nun ist es an der Zeit diese zu einem vernünftigem Ganzen zusammen zu bringen. So wie die Medizin vom Menschen, für den Menschen geschaffen worden ist, muss auch die Industrie 4.0 für und nicht gegen den Menschen nutzbar gemacht werden.

Editor’s note: This article will soon be published in an English version. Stay tuned!

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